* 21 *

»Wie bist du denn so schnell zurückgekommen, Junge 412?«, fragte Jenna.
Sie und Nicko hatten den ganzen Nachmittag gebraucht, um zur Hütte zurückzufinden. In den Stunden, die sie im Nebel umherirrten, hatte Nicko zuerst darüber nachgedacht, was seine zehn Lieblingsboote waren, und dann, als er Hunger bekam, was seine absolute Leibspeise war. Jenna hingegen hatte sich die meiste Zeit Sorgen um Junge 412 gemacht und sich fest vorgenommen, in Zukunft viel netter zu ihm zu sein. Vorausgesetzt natürlich, er war nicht in den Mott gefallen und ertrunken.
Deshalb war sie nicht ganz so sauer wie Nicko, als sie durchgefroren und durchnässt, den Nebel noch in den Kleidern, endlich in die Hütte zurückkamen und Junge 412 putzfidel und irgendwie selbstzufrieden neben Tante Zelda auf dem Sofa sitzen sahen. Nicko brummte nur etwas vor sich hin und verschwand, um in der heißen Quelle ein Bad zu nehmen. Jenna ließ sich von Tante Zelda das Haar trocken rubbeln, dann setzte sie sich neben Junge 412 und stellte ihm die Frage: »Wie bist du denn so schnell zurückgekommen?«
Junge 412 sah sie verlegen an, sagte aber nichts.
Jenna versuchte es noch einmal. »Ich hatte Angst, dass du in den Mott gefallen bist.«
Junge 412 sah sie leicht überrascht an. Er hätte nicht erwartet, dass es der Prinzessin etwas ausmachte, ob er in den Kanal fiel oder in ein Loch.
»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist«, fuhr Jenna fort. »Nicko und ich haben eine Ewigkeit gebraucht. Wir haben uns ständig verlaufen.«
Junge 412 lächelte. Am liebsten hätte er Jenna alles erzählt und den Ring gezeigt, doch jahrelang hatte er Dinge für sich behalten müssen, und das hatte ihn vorsichtig gemacht. Der einzige Mensch, dem er jemals seine Geheimnisse anvertraut hatte, war Junge 409 gewesen. Und obwohl Jenna nett war und ihn irgendwie an Junge 409 erinnerte, war sie doch eine Prinzessin und, was noch schlimmer war, ein Mädchen. Deshalb schwieg er.
Jenna bemerkte das Lächeln und freute sich darüber. Sie wollte gerade noch eine Frage stellen, als Tante Zelda so laut, dass die Flaschen mit den Zaubertränken klirrten, schrie: »Eine Botenratte!«
Marcia, die Tante Zeldas Schreibtisch am anderen Ende des Raums mit Beschlag belegt hatte, schnellte in die Höhe, packte die verdutzte Jenna an der Hand und zerrte sie vom Sofa.
»He!«, protestierte Jenna, doch Marcia nahm davon keine Notiz. Sie hetzte, Jenna hinter sich herziehend, die Treppe hinauf. Auf halber Strecke stieß sie mit Silas und Maxie zusammen, die heruntergestürmt kamen, um die Botenratte zu sehen.
»Ihr sollt doch den Hund nicht nach oben lassen«, schimpfte Marcia und versuchte, sich an Maxie vorbeizuzwängen, ohne dass Hundespucke an ihrem Umhang kleben blieb.
Maxie sabberte aufgeregt auf ihre Hand und jagte Silas nach, wobei er ihr auch noch mit seinen großen Pfoten auf die Zehen trat. Marcia war für ihn praktisch Luft. Er machte sich weder die Mühe, ihr auszuweichen, noch scherte er sich darum, was sie sagte. In seiner Wolfshundwelt war Silas der Rudelchef.
Marcia ließen diese Feinheiten von Maxies Seelenleben kalt. Jenna im Schlepptau, rannte sie an dem Hund vorbei die Treppe hinauf, nur weg von der Botenratte.
»Warum ... warum haben Sie das getan?«, fragte Jenna, als sie im Obergeschoss angekommen waren. Sie rang nach Atem.
»Wegen der Botenratte«, keuchte Marcia. »Wir wissen nicht, was für eine Art von Ratte es ist. Womöglich ist es nicht mal eine amtlich zugelassene Vertrauensratte.«
»Eine was?«, fragte Jenna verwirrt.
»Schon gut«, flüsterte Marcia und sank auf Tante Zeldas schmales Bett, auf dem ein buntes Sortiment von Flickendecken lag. Sie waren das Ergebnis vieler langer, einsamer Abende am Kamin. Marcia klopfte neben sich aufs Bett, und Jenna setzte sich zu ihr.
»Weißt du nicht, was Botenratten sind?«, fragte Marcia mit leiser Stimme.
»Doch«, antwortete Jenna unsicher, »aber zu uns kam nie eine. Niemals. Ich dachte, Botenratten kommen nur zu ganz wichtigen Leuten.«
»Nein«, sagte Marcia, »die können zu jedem kommen. Und jeder kann eine losschicken.«
»Vielleicht hat meine Mutter sie geschickt«, sagte Jenna mit hoffnungsvoller Stimme.
»Vielleicht«, erwiderte Marcia. »Vielleicht auch nicht. Wir müssen zuerst wissen, ob es eine Vertrauensratte ist, bevor wir ihr trauen können. Eine Vertrauensratte sagt immer die Wahrheit und verrät nie ein Geheimnis. Außerdem ist sie extrem teuer.«
In dem Fall, dachte Jenna enttäuscht, konnte die Ratte unmöglich von ihrer Mutter geschickt worden sein.
»Abwarten und Tee trinken«, sagte Marcia. »Wir bleiben hier oben, bis wir Gewissheit haben. Es könnte auch eine Spitzelratte sein, die nur auskundschaften will, wo sich die Außergewöhnliche Zauberin mit der Prinzessin versteckt hält.«
Jenna nickte bedächtig. Da war es wieder, das Wort. Prinzessin. Es irritierte sie immer noch. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie damit gemeint seih sollte. Doch sie blieb still neben Marcia sitzen und sah sich im Dachgeschoss um.
Der Raum war überraschend groß und luftig. Er hatte eine Dachschräge mit einem kleinen Fenster, das einen weiten Ausblick über die Marschen bot. Dicke, stabile Balken stützten das Dach. An den Balken hingen bunte Dinger, die Jenna zunächst für große Flickenzelte hielt, bis sie begriff, dass es sich um Tante Zeldas Kleider handeln musste. Drei Betten standen im Raum. Aus den Flickendecken schloss Jenna, dass sie auf Tante Zeldas Bett saßen, und das zweite, das sich in eine Nische neben der Treppe schmiegte und mit Hundehaaren übersät war, gehörte wahrscheinlich Silas. Das dritte Bett war in der Ecke gegenüber in die Wand eingebaut. Es erinnerte Jenna an ihr Schrankbett zu Hause. Bei dem Anblick bekam sie fürchterliches Heimweh. Sie vermutete, dass Marcia darin schlief, denn daneben lag ihr Buch Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht, eine feine Onyx-Schreibfeder und ein Stapel Pergament bester Qualität, voll geschrieben mit magischen Zeichen und Symbolen.
Marcia folgte ihrem Blick.
»Komm, du darfst meine Feder ausprobieren. Sie wird dir gefallen. Sie schreibt in jeder Farbe, die du dir wünschst – wenn sie gut aufgelegt ist.«
Während Jenna in der Dachkammer Marcias Feder ausprobierte, die etwas bockig war und jeden zweiten Brief in Giftgrün schrieb, versuchte Silas unten, Maxie zu bändigen, der ganz aufgeregt war, seit er die Botenratte entdeckt hatte.
»Nicko«, sagte Silas, als er seinen Sohn kommen sah, der vom Bad in der heißen Quelle noch nicht ganz trocken war. »Halt Maxie fest und pass auf, dass er der Ratte nicht zu nahe kommt.« Nicko hüpfte mit dem Hund aufs Sofa, und ebenso flugs hüpfte Junge 412 herunter.
»Und wo ist jetzt die Ratte?«, fragte Silas.
Eine große braune Ratte saß draußen vor dem Fenster und klopfte an die Scheibe. Tante Zelda öffnete das Fenster. Die Ratte sprang herein und sah sich mit flinken, glänzenden Augen im Zimmer um.
»Quieke, Ratte!«, sagte Silas in der Zaubersprache. Die Ratte sah ihn ungeduldig an. »Quieke, Ratte!«
Die Ratte verschränkte die Pfoten, warf Silas einen vernichtenden Blick zu und wartete.
»Äh ... Verzeihung, es ist Jahre her, dass ich eine Botenratte empfangen habe«, entschuldigte sich Silas. »Ach ja, jetzt hab ich’s ... Sprich, Rattus Rattus.«
»Na also«, seufzte die Ratte. »Wird ja auch Zeit.« Sie richtete sich auf. »Zunächst hätte ich eine Frage. Ist unter den Anwesenden ein gewisser Silas Heap?« Die Ratte sah Silas direkt an. »Ja, das bin ich«, antwortete Silas.
»Hab ich mir gedacht«, sagte die Ratte. »Passt zur Beschreibung.« Sie hüstelte bedeutungsvoll, straffte ihre Gestalt und verschränkte die Pfoten hinter dem Rücken.
»Ich bin hier, um Silas Heap eine Botschaft zu überbringen. Die Botschaft wurde heute Morgen um acht Uhr von einer gewissen Sarah Heap, wohnhaft in Galens Haus, aufgegeben. Hier der genaue Wortlaut:
Lieber Silas, liebe Jenna,
mein Häschen, und lieber Nicko, mein Schatz,
in der Hoffnung, dass ihr wohlbehalten angekommen seid, schicke ich
die Ratte zu Zelda. Sally hat uns berichtet, dass der Jäger euch
verfolgt hat, und ich musste die ganze Nacht an euch denken und
konnte kein Auge zutun. Dieser Mann hat einen so fürchterlichen
Ruf. Am Morgen wusste ich nicht mehr ein noch aus und war fest
davon überzeugt, dass man euch alle gefangen genommen hätte (obwohl
Galen mir versicherte, dass ihr in Sicherheit seid). Sowie es hell
wurde, kam der gute Alther Besuch und brachte mir die frohe Kunde
von eurer geglückten Flucht. Wie er sagt, hat er euch bei eurem
Aufbruch in die Marram-Marschen zuletzt gesehen. Er bedauert es
sehr, dass er euch nicht begleiten konnte.
Silas, es ist etwas geschehen. Simon ist auf dem Weg hierher verschwunden. Wir befanden uns auf dem Uferweg, der in Galens Wald führt, als ich bemerkte, dass er nicht mehr da war. Ich habe keine Ahnung, was ihm zugestoßen sein könnte. Wir sind keinen Gardisten begegnet, und niemand hat gesehen oder gehört, wie er verschwunden ist. Silas, ich mache mir große Sorgen. Vielleicht ist er in eine Falle gestürmt, die diese schrecklichen Hexen aufstellen. Wir werden uns heute auf die Suche nach ihm machen.
Die Gardisten haben Sallys Cafe in Brand gesteckt. Sie selbst ist mit knapper Not entkommen. Sie weiß auch nicht, wie sie es geschafft hat. Sie ist heute Morgen zu uns gestoßen und hat mich gebeten, mich in ihrem Namen ganz herzlich bei Marcia für den Talisman bedanken, den sie ihr gegeben hat. Wir sind ihr alle sehr dankbar. Das war sehr großzügig von Marcia.
Silas, bitte schicke die Ratte zurück und lass mich wissen, wie es euch geht.
Wir sind in Gedanken bei euch. Gruß und Kuss
Ende der Botschaft.«
Erschöpft sackte die Ratte auf dem Fensterbrett zusammen.
»Ich könnte sterben für eine Tasse Tee«, hauchte sie.
Silas war bis ins Innerste aufgewühlt. »Ich muss zurück und Simon suchen. Wer weiß, was ihm zugestoßen ist.«
Tante Zelda versuchte, ihn zu beruhigen. Sie brachte zwei Becher mit süßem heißem Tee, einen für die Ratte und einen für Silas. Die Ratte leerte ihren Becher in einem Zug, Silas hielt seinen bedrückt in den Händen.
»Simon ist ein zäher Bursche, Dad«, sagte Nicko. »Dem ist bestimmt nichts passiert. Wahrscheinlich hat er sich nur verlaufen. Er wird längst wieder bei Mum sein.«
Silas war nicht überzeugt.
Tante Zelda schlug vor, erst einmal zu Abend zu essen, das sei das Vernünftigste, was man jetzt tun könne. Bei Tante Zeldas Abendessen vergaß man gewöhnlich seine Probleme. Sie war eine gastfreundliche Köchin, die gar nicht genug Menschen um ihren Tisch versammeln konnte, und die Gäste unterhielten sich jedes Mal prächtig. Nur das Essen selbst war nicht unbedingt nach jedermanns Geschmack. Die häufigste Beschreibung war »interessant«, wie zum Beispiel in dem Satz: »Dieser Brot- und Kohlauflauf war sehr ... interessant, Zelda. Auf die Idee wäre ich nie gekommen.« Oder: »Also, ich muss sagen, diese Erdbeermarmelade ... interessant als Soße zu aufgeschnittenem Aal.«
Silas hatte die Aufgabe, den Tisch zu decken, damit er auf andere Gedanken kam, und die Ratte wurde zum Essen eingeladen.
Tante Zelda servierte einen Frosch- und Kanincheneintopf mit zweimal gekochten Rübenköpfen, und zum Nachtisch gab es ein Kirsch- und Karottenkompott. Junge 412 langte tüchtig zu, denn gegenüber der Verpflegung bei der Jungarmee war es eine gewaltige Verbesserung. Zu Tante Zeldas Entzücken verdrückte er sogar eine zweite und dritte Portion. Noch nie hatte ein Gast bei ihr einen Nachschlag haben wollen, geschweige denn zweimal.
Nicko war froh, dass Junge 412 so viel aß, denn so entging Tante Zeldas Aufmerksamkeit, dass er seine Froschfleischstücke unter seinem Messer versteckte. Selbst wenn sie es bemerkt hätte, hätte es ihr nicht so viel ausgemacht. Außerdem gelang es ihm, ein komplettes Kaninchenohr, das er in seinem Teller gefunden hatte, an Maxie zu verfüttern, sehr zu seiner Erleichterung und Maxies Freude.
Marcia hatte von oben herunter gerufen und sich entschuldigt. Sie und Jenna könnten wegen der Botenratte nicht zum Essen kommen. Silas hielt das für eine faule Ausrede und argwöhnte, dass sie heimlich, still und leise ein paar Feinschmeckergerichte herbeizauberte.
Trotz – oder vielleicht gerade wegen – Marcias Abwesenheit verlief das Essen recht harmonisch. Die Botenratte war eine angenehme Gesellschafterin. Silas hatte es versäumt, den Sprich-Rattus-Rattus-Befehl aufzuheben, und so ließ sich die redselige Ratte über jedes Thema aus, das sie fesselte, wie etwa die Probleme mit der heutigen Rattenjugend oder den Rattenwurst-Skandal in der Kantine der Gardewächter, der die gesamte Rattenbevölkerung empört hatte, von den Gardewächtern gar nicht zu reden.
Als das Mahl sich dem Ende zuneigte, wandte sich Tante Zelda an Silas und fragte ihn, ob er die Botenratte noch heute Nacht zu Sarah zurückschicken wolle.
Die Ratte machte ein bedenkliches Gesicht. Obwohl sie groß war und, wie sie jedem gern versicherte, »selbst auf sich aufpassen« konnte, war sie nicht gerade darauf erpicht, bei Nacht die Marram-Marschen zu durchqueren. Die Saugnäpfe einer Wassernixe konnten einem Rattenleben ein jähes Ende bereiten, und weder Braunlinge noch Boggarts gehörten zu ihren bevorzugten Gesellschaftern. Die Braunlinge zogen einen nur so zum Spaß hinab in den Schlamm, und ein hungriger Boggart freute sich immer, wenn er seinen Jungen, die in den Augen der Botenratte gefräßige kleine Monster waren, ein Rattenragout kochen konnte.
(Der Boggart war dem Essen natürlich ferngeblieben. Wie immer. Er saß lieber in seinem gemütlichen Schlammloch und verspeiste die von Tante Zelda eigens für ihn bereiteten Brote mit gekochtem Kohl. Er persönlich hatte lange keine Ratten mehr gegessen. Das Fleisch schmeckte ihm nicht besonders, und die kleinen Knochen blieben einem zwischen den Zähnen stecken.)
»Ich habe mir gerade überlegt«, sagte Silas langsam, »dass es eventuell besser wäre, die Ratte erst morgen früh zurückzuschicken. Sie hat einen weiten Weg hinter sich und braucht eine Mütze voll Schlaf.«
Die Ratte strahlte. »Ganz recht, Sir«, sagte sie. »Ein weiser Entschluss. So manche Botschaft geht verloren, weil es an erquickendem Schlaf mangelt. Und an einem guten Abendessen. Und ich darf wohl sagen, dass dieses Essen außergewöhnlich ... interessant war, Madam.« Sie verneigte sich in Tante Zeldas Richtung.
»Es war mir ein Vergnügen«, lächelte Tante Zelda.
»Ist diese Ratte eine Vertrauensratte ?«, fragte der Pfefferstreuer mit Marcias Stimme. Alle zuckten zusammen.
»Du könntest uns vorher warnen, wenn du deine Stimme in der Weltgeschichte herumschickst«, meckerte Silas. »Ich hätte mich fast an meinem Karottenkompott verschluckt.«
»Und, ist sie eine?«, fragte der Pfefferstreuer unbeirrt.
»Sind Sie eine?«, gab Silas die Frage an die Ratte weiter, die den Pfefferstreuer anstarrte und ausnahmsweise einmal sprachlos war. »Sind Sie eine Vertrauensratte, ja oder nein?«
»Ja«, antwortete die Ratte, unschlüssig, ob sie mit Silas oder dem Pfefferstreuer reden sollte. Sie entschied sich für den Pfefferstreuer. »Das bin ich, Miss Pfefferstreuer. Mein Name ist Stanley, und ich bin eine amtlich zugelassene Langstreckenvertrauensratte. Zu Ihren Diensten.«
»Gut. Ich komme runter.«
Marcia kam, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunter und durchmaß, ein Buch in der Hand, den Raum. Dabei wischte ihr Seidenumhang über den Fußboden und warf einen Stapel Zaubertrankgläser um. Hinter ihr folgte Jenna, die es nicht erwarten konnte, endlich mit eigenen Augen eine Botenratte zu sehen.
»Es ist so eng hier«, klagte Marcia und wischte sich genervt Tante Zeldas besten mehrfarbigen Brillanttrank vom Umhang. »Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie Sie hier zurechtkommen, Zelda.«
»Ich bin ziemlich gut zurechtgekommen, bevor Sie hier aufgekreuzt sind«, brummte Tante Zelda vor sich hin, während Marcia neben der Ratte Platz nahm. Stanley erbleichte unter seinem braunen Fell. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte er sich vorgestellt, dass er einmal die Außergewöhnliche Zauberin kennen lernen würde. Er verbeugte sich tief, viel zu tief, bekam Übergewicht und fiel in die Reste des Kirsch- und Karottenkompotts.
»Ich möchte, dass du die Ratte auf dem Rückweg begleitest, Silas«, erklärte Marcia.
»Was?«, fragte Silas. »Jetzt?«
»Ich bin nicht befugt, Passagiere mitzunehmen, Euer Gnaden«, sagte Stanley zögernd zu Marcia. »Genau genommen, Euer Gnaden, und ich sage das mit dem größten Respekt...«
»Aus, Rattus Rattus«, bellte Marcia.
Stanley klappte den Mund ein paar Mal lautlos auf und zu, ehe er begriff, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Dann nahm er wieder Platz, leckte sich widerwillig das Kirsch- und Karottenkompott von den Pfoten und wartete. Ihm blieb gar nichts anders übrig, als zu warten, denn eine Botenratte darf erst wieder aufbrechen, wenn sie eine Antwort oder einen abschlägigen Bescheid bekommen hat. Und bislang hatte Stanley weder das eine noch das andere erhalten, und so übte er sich, als echter Profi, der er war, in Geduld und gedachte traurig der Worte, die seine Frau am Morgen zu ihm gesprochen hatte, als sie hörte, dass er einen Auftrag von einem Zauberer bekommen habe.
»Stanley«, hatte seine Frau Dawnie mit erhobenem Zeigefinger gesagt, »ich an deiner Stelle würde mich nicht mit diesen Zauberern einlassen. Denk an Ellis Mann, der von einem kleinen fetten Zauberer oben im Turm verhext wurde und im Kochtopf landete. Er kam erst nach zwei Wochen wieder und war in einem fürchterlichen Zustand. Geh nicht, Stanley. Bitte.«
Doch Stanley hatte sich insgeheim geschmeichelt gefühlt, als die Rattenzentrale ihn bat, einen auswärtigen Auftrag zu erledigen, noch dazu für einen Zauberer. Er hatte sich auf die Abwechslung gefreut. In den zwei Wochen davor war er nämlich ständig zwischen zwei Schwestern hin und her gependelt, die miteinander im Streit lagen. Die Botschaften, die er zu übermitteln hatte, waren immer kürzer und rüder geworden, bis am gestrigen Tag seine Aufgabe nur noch darin bestanden hatte, von einer Schwester zur anderen zu rennen und überhaupt nichts mehr zu sagen, weil eine der anderen zu verstehen geben wollte, dass sie nicht mehr mit ihr spreche. Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, als die Mutter, entsetzt über die hohe Rechnung, die sie plötzlich von der Rattenzentrale erhalten hatte, den Auftrag kündigte.
Und so hatte Stanley seiner Frau erleichtert erklärt, dass er gehen müsse, wenn er gebraucht werde. »Schließlich«, so hatte er gesagt, »bin ich eine der wenigen Langstreckenvertrauensratten in der Burg.«
»Und eine der dümmsten«, hatte seine Frau entgegnet.
Und so saß Stanley jetzt zwischen den Resten des merkwürdigsten Abendessens, das er jemals zu sich genommen hatte, und lauschte der überraschend mürrischen Außergewöhnlichen Zauberin, die dem Gewöhnlichen Zauberer sagte, was er zu tun hatte. Sie knallte ihr Buch auf den Tisch, dass die Teller klirrten.
»Ich habe Zeldas Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht durchgelesen. Wenn ich doch nur ein Exemplar im Zaubererturm gehabt hätte. Es ist von unschätzbarem Wert.« Sie klopfte anerkennend auf das Buch. Das Buch missverstand die Geste. Es flüchtete vom Tisch und flog zu Marcias Verdruss an seinen Platz in Tante Zeldas Bücherstapel zurück.
»Silas«, sagte Marcia, »ich möchte, dass du gehst und meinen Talisman von Sally zurückholst. Wir brauchen ihn hier.«
»In Ordnung«, sagte Silas.
»Es muss sein, Silas«, sagte Marcia. »Unsere Sicherheit hängt davon ab. Ohne ihn habe ich weniger Macht, als ich dachte.«
»Ja, ja, schon gut«, erwiderte Silas ungeduldig und mit seinen Gedanken bei Simon.
»In meiner Eigenschaft als Außergewöhnliche Zauberin befehle ich es dir«, fuhr Marcia unbeirrt fort.
»Ja doch!«, rief Silas aufgebracht. »Ich sagte Ja. Ich werde gehen. Das wollte ich sowieso. Simon ist verschwunden. Ich werde ihn suchen.«
»Gut«, sagte Marcia, die ihm wie immer nur mit halbem Ohr zuhörte. »Aber wo ist denn die Ratte?«
Stanley, der noch immer nicht sprechen konnte, hob die Pfote.
»Die Botschaft, die Sie zu überbringen haben, ist dieser Zauberer. Zurück an den Absender. Verstanden?«
Stanley nickte unsicher. Er hätte die Außergewöhnliche Zauberin gern darauf hingewiesen, dass dies gegen die Vorschriften der Rattenzentrale verstieß. Sie beförderten keine Fracht, weder menschliche noch sonst welche. Er seufzte. Seine Frau hatte ja so Recht gehabt.
»Sie werden diesen Zauberer mit geeigneten Mitteln sicher und wohlbehalten zum Absender bringen. Verstanden?«
Stanley nickte unglücklich. Mit geeigneten Mitteln? Was hatte das zu bedeuten? Vermutlich sollte Silas nicht durch den Fluss schwimmen. Oder per Anhalter im Gepäck eines vorbeikommenden Hausierers reisen. Na prima.
Silas kam Stanley zu Hilfe. »Danke, Marcia, aber ich brauche nicht aufgegeben zu werden wie ein Päckchen. Ich nehme ein Kanu. Die Ratte kann mitfahren und mir den Weg zeigen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Marcia, »aber ich möchte eine Auftragsbestätigung. Sprich, Rattus Rattus.«
»Jawohl«, sagte Stanley mit dünner Stimme. »Auftrag bestätigt.«
Silas und die Botenratte brachen am Morgen kurz nach Sonnenaufgang mit der Muriel eins auf. Der Nebel hatte sich in der Nacht aufgelöst, und die Wintersonne warf im grauen Licht des Morgens lange Schatten über die Marschen.
Jenna, Nicko und Maxie mussten früh aufstehen, damit sie Silas zum Abschied winken und Grüße an Sarah und die Jungen auftragen konnten. Die Luft war kalt und frostig, und ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Silas wickelte sich in seinen dicken blauen Wollumhang und setzte die Kapuze auf. Stanley stand neben ihm und zitterte leicht, nicht nur vor Kälte.
Dicht hinter ihm gab nämlich Maxie, den Nicko an seinem Wolfshund-Halstuch festhielt, ein furchtbares Röcheln von sich, und als sei das noch nicht genug, war soeben auch noch der Boggart aufgetaucht.
»Ah, Boggart«, lächelte Tante Zelda. »Vielen Dank, mein lieber Boggart, dass Sie aufgeblieben sind. Hier sind ein paar belegte Brote, die Sie bei Kräften halten. Ich lege sie ins Kanu. Silas, es sind auch welche für dich und die Botenratte dabei.«
»Oh, fein, vielen Dank, Zelda. Womit sind sie denn belegt?«
»Mit bestem gekochtem Kohl.«
»Ach! Nun, das ist ... äh ... sehr aufmerksam.« Silas war froh, dass er im Ärmel etwas Brot und Käse herausgeschmuggelt hatte.
Der Boggart trieb missmutig im Mott, und auch die Erwähnung der Kohlbrote konnte ihn nicht versöhnlich stimmen. Bei Tageslicht war er nicht gerne im Freien, auch nicht mitten im Winter. Seine empfindlichen Augen schmerzten, und wenn er nicht aufpasste, bekam er einen Sonnenbrand an den Ohren.
Stanley saß unglücklich am Ufer, gefangen zwischen dem Hundeatem hinter und dem Boggart-Atem vor ihm.
»Dann wollen wir mal«, sagte Silas zu der Ratte. »Steigen Sie ein. Ich nehme an, Sie wollen vorne sitzen. Maxie tut das immer.«
»Ich bin kein Hund«, erwiderte Stanley verächtlich, »und ich reise nicht mit Boggarts.«
»Dieser Boggart ist ungefährlich«, versicherte ihm Tante Zelda.
»Es gibt keinen ungefährlichen Boggart«, murrte Stanley, verstummte aber, als er sah, dass Jenna aus der Hütte kam, um sich von Silas zu verabschieden. Flink hüpfte er ins Boot und versteckte sich unter dem Sitz.
»Sei vorsichtig, Dad«, sagte Jenna zu Silas und drückte ihn fest.
Auch Nicko umarmte ihn. »Du musst Simon finden, Dad. Und vergiss nicht, in Ufernähe zu bleiben, wenn du gegen die Strömung paddelst. In der Flussmitte ist die Strömung immer stärker.«
»Ich werde daran denken«, schmunzelte Silas. »Passt auf euch auf, ihr beiden. Und auf Maxie.«
»Wiedersehen, Dad!«
Maxie winselte und jaulte, als er zu seinem Entsetzen sah, dass sein Herrchen ihn tatsächlich zurückließ.
»Wiedersehen!« Silas winkte, während er unsicher durch den Kanal paddelte, begleitet von der vertrauten Frage des Boggart: »Folgtn ihr mir noch?«
Jenna und Nicko beobachteten, wie das Kanu sich langsam durch die gewundenen Kanäle schlängelte und dann in die Weite der Marram-Marschen hinausfuhr, bis sie Silas’ blaue Kapuze nicht mehr ausmachen konnten.
»Hoffentlich findet sich Dad zurecht«, sagte Jenna leise. »Sein Orientierungssinn ist nicht der beste.«
»Die Botenratte wird ihn schon ans Ziel bringen«, erwiderte Nicko. »Sie weiß, dass Marcia eine Erklärung verlangen wird, wenn sie es nicht tut.«
Tief in den Marram-Marschen saß Stanley im Kanu und betrachtete das erste Paket, dass er in seiner Laufbahn zu befördern hatte. Er hatte beschlossen, Dawnie und den Ratten von der Rattenzentrale nichts davon zu erzählen. Er seufzte. Die Sache verstieß gegen alle Vorschriften.
Doch nach einer Weile, während Silas langsam und etwas ungleichmäßig durch die verschlungenen Kanäle paddelte, begann Stanley einzusehen, dass diese Art zu reisen gar nicht so übel war. Immerhin wurde er die ganze Strecke bis zum Bestimmungsort gefahren. Silas machte die ganze Arbeit, und er brauchte nichts weiter zu tun, als dazusitzen, ein paar Geschichten zu erzählen und die Fahrt zu genießen.
Und genau das tat Stanley, nachdem sich Silas am Ende des Deppen Ditch von dem Boggart verabschiedet hatte und den Fluss hinauf in Richtung Wald paddelte.